M. Croes u.a.: "Gif laten wij niet voortbestaan"

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Title
"Gif laten wij niet voortbestaan". Een onderzoek naar de overlevingskansen van joden in de Nederlandse gemeenten, 1940-1945


Author(s)
Croes, Marnix; Tammes, Peter
Published
Amsterdam 2004: Aksant
Extent
614 S.
Price
€ 35,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jeannette Nowak, Frankfurt am Main

Der Titel ´Gif laten wij niet voortbestaan´ bedeutet in etwa: „Euch lassen wir nicht am Leben“ und ist ein Zitat eines Deutschen über die niederländischen Juden. Von ihnen überlebten ungefähr 27 Prozent die deutsche Besatzung. Diese geringe Zahl wurde nach 1945 mit der funktionierenden Zusammenarbeit zwischen deutschen Besatzern und niederländischen Beamten erklärt. Eine weitere Erklärung – v.a. im europäischen Vergleich – war der Antisemitismus in der niederländischen Bevölkerung. Diese Erklärungsversuche beziehen sich auf die Niederlande als Ganzes. Eine Betrachtung der Überlebenden in den einzelnen niederländischen Gemeinden ergibt jedoch ein differenzierteres Bild. Hier setzen Croes und Tammes an und fragen: Wodurch wurden die Unterschiede zwischen den niederländischen Gemeinden bezüglich der Überlebenschance von Juden verursacht?

Ihre gemeinsame Dissertation haben der Historiker und Politologe Marnix Croes und der Soziologe Peter Tammes mit Unterstützung des University Center for Social Science Theory and Methodology (ICS) in Nimwegen interdisziplinär erstellt, wofür sie mit dem Studienpreis der Stichting Praemium Erasmianum 2004 ausgezeichnet wurden. Auf der Grundlage von Sekundärliteratur und bisher ungenutzten Originalquellen haben sie Hypothesen aufgestellt und mit qualitativen Methoden überprüft. `Gif laten wij niet voortbestaan´ gliedert sich in drei Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln. Jedem Kapitel wurde ein Zitat vorangestellt, das im Zusammenhang mit der Judenverfolgung steht. Im ersten Teil (verfasst von Croes und Marnix) wird zunächst der Prozentsatz der überlebenden Juden in den Niederlanden, den Provinzen und 306 Gemeinden eruiert und die Quellen erläutert.

Im zweiten Teil der Arbeit werden Täter, Gegner und Opfer thematisiert: Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, die Freiwillige Hilfspolizei, Bürgermeister, Polizei, die „Versäulung“ der Gesellschaft und persönliche Merkmale der Juden. Dabei geht es nicht nur um die Beschreibung des „Wie“ und „Warum“, sondern im Hinblick auf die statistische Auswertung auch um die Ermittlung von quantitativen Angaben und Wahrscheinlichkeiten. Ziel ist es, die Faktoren herauszufiltern, die einen Einfluss auf die Überlebenschancen von Juden hatten. Croes beschreibt ausführlich die Organisation von Sicherheitspolizei (Sipo) und Sicherheitsdienst (SD) in den Niederlanden. Er belegt, dass zwei bisher verbreitete Annahmen revidiert werden müssen 1: der Einfluss des Höheren SS- und Polizeiführers Rauter auf Sipo und SD 2 sowie die Führung der Außenstellen und einzelner Mitarbeiter. Die Unterschiede zwischen den Gemeinden misst Croes mit Hilfe von zwei Variablen: dem Aktivitätsmaß und dem Radikalitätsmaß. Für ersteres wird die Anzahl gefangen genommener untergetauchter Juden, die untergetaucht waren, herangezogen, die Croes auf weit mehr schätzt als bisher angenommen.

Die zweite Variable gibt die Radikalität im Umgang mit Widerstandskämpfern an. Mit der Freiwilligen Hilfspolizei (Vrijwillige Hulppolitie, VHP) befasst sich Tammes, die von der Forschung bisher kaum beachtet wurde. Die VHP bestand nur einige Monate und zu ihren Aufgaben gehörte die Mithilfe beim Transport von Juden. Tammes weist einen Zusammenhang zwischen dem Einsatz der VHP und schlechteren Überlebenschancen der Juden nach. Ebenfalls von Tammes stammt das Kapitel „Bürgermeister“. Teil der Untersuchung ist die Ablösung von Bürgermeistern, das Verhalten von pro-deutschen Bürgermeistern und die Auswirkungen davon auf die jüdischen Gemeindemitglieder. Tammes stellt 10 Hypothesen auf, die er etwas konfus erarbeitet. Zwischen der Haltung der Bürgermeister sowie ihrer Amtsdauer und den Chancen für Juden lassen sich Zusammenhänge feststellen. Im Kapitel über die Polizei (von Croes und Tammes) folgt nach einer Beschreibung des Polizeiapparates und seiner Reorganisation die Untersuchung, welchen Einfluss eine pro-deutsche oder die seit Anfang 1943 meist passive Haltung hatte. Es zeigt sich, dass durch die verschiedenen Teile der Polizei auch die Überlebenschancen der Juden variierten: die „staatspolitie“ in großen Städten war am aktivsten bei der Judenverfolgung. Die seit einiger Zeit in der Forschung vertretene Meinung, dass der in den Niederlanden latent vorhandene Antisemitismus eine Rolle bei der Judenverfolgung spielte 3, wird im Kapitel „Versäulung“ („Verzuiling“) 4 von Tammes aufgegriffen. Besonders die gesellschaftliche Trennung in Bezug auf Religion und nicht gleich-konfessionelle Hochzeiten hatten Auswirkungen auf das Verhalten gegenüber Juden.

Kurze Kapitel über den Zusammenhang zwischen Widerstand und Judenverfolgung in der Provinz Overijssel sowie die Auswirkungen verschiedener persönlicher Merkmale der Juden (Nationalität, Alter, Wohlstand) in der Provinz Utrecht schließen sich an. Im dritten Teil der Dissertation wird die Aufstellung der Hypothesen erläutert und die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst. Die gemeinsame Auswertung erfolgt auf den drei Ebenen Individuum, Gemeinde und Provinz. Dabei lässt sich erkennen, dass einige Hypothesen nicht zutreffen. Entgegen den Erwartungen hat die Anzahl Katholiken einer Gemeinde einen positiven Einfluss auf die Chancen der Juden, wirkt sich ein gut organisierter Widerstand anscheindend negativ aus und haben die Stimmen für die NSB bei Wahlen in den 1930er-Jahren keinen Einfluss. Einige Faktoren der Untersuchung haben mehr Gewicht als andere: die Zustimmung der durchführenden Organe zur nationalsozialistischen Ideologie, der Kontakt von Juden zu anderen „Säulen“ sowie die persönlichen Merkmale. Unterschiede entstehen auch durch Gemeindegrößen.

Mehrere Beilagen befinden sich am Ende des Buches: u.a. Quellen- und Literaturverzeichnisse, eine Liste der niederländischen Gemeinden mit Angabe der Anzahl überlebender Juden, eine Rangtabelle von Sipo und SD sowie ein Organigramm des Reichssicherheitshauptamtes und Erklärungen zu den Analysemethoden. Leider fehlt ein Register, das angesichts des Buchumfanges sehr hilfreich wäre.

Die Lektüre des Buches ist für den statistisch unbedarften Leser sicher etwas mühselig. Zahlreiche Tabellen und Grafiken ergänzen den Text, wären aber ohne die Erklärungen von Croes und Marnix kaum verständlich. Durch die vielen Zahlen wirken die beschriebenen Vorgänge manchmal etwas abstrakt, woran auch die Fallbeispiele, die zum Teil den Eindruck von Schlaglichtern machen, nichts ändern. Einige Themen dagegen sind fast zu ausführlich ausgeführt, wie z.B. Sipo und SD. Dieses Kapitel beginnt mit Kurzbiografien zu Himmler und Heydrich, wobei der Zusammenhang zu den Niederlanden nicht deutlich wird. Auch an anderen Stellen hätte um der Verkürzung des Buches willen einiges weggelassen werden können (z.B. die Registrierung von Juden in anderen europäischen Staaten).

Obwohl es sich um eine gemeinsame Dissertation handelt, fällt auf, dass der Beitrag der beiden Autoren unterschiedlich ausfällt: auf Croes entfallen ca. 280 Seiten, auf Tammes ca. 170 Seiten. Durch die abwechselnd einzeln und gemeinsam geschrieben Kapitel wirkt der Text etwas uneinheitlich. Dies resultiert nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Schreibstil. Dem deutschen Leser fallen zudem die immer wieder vorkommenden Schreibfehler in den deutschen Zitaten auf.

Die Dissertation von Marnix und Croes ist ein interessantes Werk. Für Historiker mag es ungewohnt sein, sich in großem Umfang mit statistischen Untersuchungen zu beschäftigen, das Ergebnis ist bemerkenswert: Es werden Antworten auf offene und scheinbar gelöste Fragen gegeben, gleichzeitig tun sich der Forschung neue Fragen und Zugangsmöglichkeiten auf. Auch für deutsche Historiker ist dies ein empfehlenswertes Buch, da Marnix und Croes ausführlich das Vorgehen der deutschen Organisationen bei der Besatzung beschreiben und außerdem differenzierte Erklärungen bieten, ohne die Deutschen zu verteufeln oder ihre Schuld zu verharmlosen.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Romijn, Peter, The experience of the Jews in the Netherlands during the German Occupation, in: Israel, Jonathan; Salverda, Reinier (Hgg.), Dutch jewry, its history and secular culture (1500-2000) (Brill´s Series in Jewish Studies 29), Leiden 2000, S. 543-271, hier: S. 262f.
2 Hanns Albin Rauter war gleichzeitig Generalkommissar für öffentliche Sicherheit und Ordnung und zuständig für SS und Polizei (S. 334).
3 Vgl. z.B. Blom, J.H.C., Jews in the Netherlands, 1870-1940, in: Israel, Jonathan; Salverda, Reinier (Hgg.), Dutch jewry, its history and secular culture (1500-2000), (Brill´s Series in Jewish Studies 29), Leiden 2000, S. 215-224, hier: S. 220ff. Blom weist darauf hin, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg nur zwei jüdische Minister und keinen jüdischen Bürgermeister gegeben hat.
4 Mit „Verzuiling“ ist die Gliederung der niederländischen Gesellschaft in relativ abgegrenzte politische und religiöse Lebensräume und Anschauungen gemeint.

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